Peter PABISCH (US)

Artmann als Galionsfigur der Wiener Gruppe im Blickwinkel von Walter Höllerers Literarischem Colloquium Berlin um 1965

Die fünfziger Jahre des 20. Jhs. bezeugen einen wesentlichen Umschwung in der deutschen Literatur, den man in seinen Anfängen u. a. zwischen die Gründung der Gruppe 47 und die Bestrebungen der Ära Wiener Gruppe legen könnte. Während erstere historische Ereignisse literarisch in traditionellen Formen aufarbeitete, wobei vor allem Namen wie Ilse Aichinger, Günther Eich oder Ingeborg Bachmann aufleuchten, kümmerte sich eine größere Zahl von Österreichern um gänzlich neue Formen, die der deutsche Germanist Alexander von Bormann als „die große Differenz“ charakterisierte.  Er dachte dabei an die zahlreichen Sprachversuche der sogenannten experimentellen Phase des Neodadaismus, der Pop-Art und v. a der Konkretdichtung/Concrete Poetry, die mit den Namen der fünf engeren Autoren der Wiener Gruppe – nach Gerhard Rühm – verbunden sind, neben ihm mit Konrad Bayer, Friedrich Achleitner, Ossi Wiener und H. C. Artmann samt dessen alles überstrahlender Dichtung – darunter auch im Dialekt. Weiters rechnet man zu dieser Ära Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Andreas Okopenko, Reinhard Prießnitz und insbesondere Thomas Bernhard und Peter Handke.  Mit Handkes Werken Wunschloses Unglück und Die linkshändige Frau  der frühen siebziger Jahre wurde eine Rückführung des deutschen Literaturgeschehens in „die kleine Differenz“ im Sinne von Bormanns geboten, die schließlich die Fügung „der Rückkehr des Gefühls in der deutschen Literatur“ aufkommen ließ.  Artmann hat in all diesen Entwicklungen mitgewirkt, zuweilen tonangebend.  Das gilt in erster Linie in der frühen Phase der 50er und 60er Jahre, als der für die Moderne wichtige Germanist Walter Höllerer die Sprachszene im deutschen Raum durch seine Leitung des Literarischen Colloquiums Berlin (ab  1963) und durch seine Herausgabe der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter entscheidend mitlenkte und vieler ihrer mäandernden Wege wies.  Als er Mitte der sechziger Jahre Vertreter der Wiener Gruppe, darunter v. a. Artmann nach Berlin einlud, unterstrich er die Einzigartigkeit der Spracherneuerungen durch diese Gruppe.  Das hatte viele Folgen, wie etwa Bachmanns Verstecken ihrer prosodischen Dichtung in die Schreibtischlade oder das Bestätigen und Erwachen der proemischen Dichtung Friederike Mayröckers oder der treffsicheren konkreten Dichtung Ernst Jandls („wien: heldenplatz“, „die zeit vergeht“ etc.) oder anderer Dichtungen von Paul Celan bis Reinhard Prießnitz.                          

In dem Vortrag gehe ich nicht nur näher auf Walter Höllerers Stellungnahmen zu den Wienern, besonders Artmann ein, sondern hebe auch persönliche Begegnungen in Berlin hervor: mit Wieland Schmied, Gerald Bisinger und späteren Leitern des Literarischen Colloquiums wie Wolfgang Trautwein und Ulrich Janetzki (er schrieb seine Dissertation über Konrad Bayer). Ich sprach auch mit Artmann selbst über seine Berlinerfahrungen.  Dazu hatte ich ein jüngstes Telefonat mit Gerhard Rühm (Frühjahr 2019), der gerade sein Gesamtwerk in acht (?) Bänden in Berlin herausbringt. Die Grundsentenz meines Vortrags soll die Bedeutung der Ära Wiener Gruppe aus einem Berliner Blickwinkel für die gesamte deutsche Literatur sein, beginnend mit der schicksalshaften historischen Zeit nach der Naziära und nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei Artmann im Sinne des Symposiums das Hauptaugenmerk gewidmet wird.

Peter Pabisch, Dr. phil, Ph. D., Professor of German Studies emerit. (The University of New Mexico, Albuquerque, NM, USA). Geb. in Wien. Lebt in New Mexico und in Österreich. Studium der Germanistik, Hochschulpädagogik und  Naturwissenschaften an den Universitäten Wien und Illinois (Urbana-Champaign); lehrte viele Jahre an der University of New Mexico in Albuquerque; emeritiert seit 2004. Mitbegründer und langjähriger ehemaliger Leiter der Deutschen Sommerschule von New Mexico in Taos. Mehrere Auszeichnungen, darunter: Verdienstorden 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland, das Große Ehrenzeichen der Republik Österreich und der Friedestrompreis 2000.                                                                           

Forschungsarbeit und Buchpublikationen zu H. C. Artmann, moderner deutscher Dialektliteratur, Literatur seit Goethe, German Studies, European Studies.

NEUESTE PUBLIKATION:

Geschichte der deutschsprachigen Dialektliteratur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts

(Berlin: Weidler Buchverlag; 6 Bde., 2019)